Dienstag, 23. Februar 2010

1.Treffen

Vortrag von Diego Castro für die Immaterialistische Internationale,
ursprünglich anlässlich der Veranstaltung Existenzanalysen
in der Städtischen Kunsthalle Lothringer 13, München.

Aktualisierte Version vom 6.2.2010, im Rahmen der Veranstaltung

„Vorglühen fur einen Kongress für Anti-Kapitalistische
Kunst (K.A.K.K.)"
im WEST GERMANY, Berlin

Anwesend waren weiter Stephan Kallage vom WEST GERMANY, der die
anschliessende Diskussion moderierte sowie Sarah Lehn, die mit
helfender Hand und Koordinationsgabe diesem ersten Treffen zum Gelingen
verhalf. An der anschliessenden Diskussion beteiligten sich etwa 30 Gäste.
Der zweite vorgesehene Vortrag zur Aura immaterialistischer Kunst
musste aufgrund der Länge verschoben werden. Hier nun der Text.


Meine Damen und Herren,

ich bin hier geladen worden, um über den Versuch der Wiedererlangung von
Diskurshoheit in Bezug auf die Kunstproduktion, aber auch in Bezug auf das künstlerische
Selbstverständnis zu reden.
Dies geschieht erstens vor dem Hintergrund eines Paradigmenwechsels, der innerhalb der
Kunstvermittlung und der institutionell getragenen Diskurse stattgefunden hat. Hier fiel die
Kritik im Zuge der zweiten Welle der Institutionskritik dem immer wiederkehrenden
Schicksal anheim, von der Institution geschluckt zu werden und so selbst zum Bestandteil
des institutionellen Diskurses zu werden.
Dieses würde ja an und für sich kein grosses Problem darstellen, vorausgesetzt, die
Institutionen widmeten sich voll der Aufgabe, die Kunst zu repräsentieren und neue
künstlerische Diskurse durchzusetzen. Dieses tun sie aber oft nicht bzw. nicht
ausschliesslich.
Sie repräsentieren selbstverständlich auch die Diskurse der bürgerlichen
Kunstvereinsvorstände, der staatlichen Kulturpolitik mitsamt ihren Ideologien und
politischen Agendas, der Sponsoren und des auf diese Weise institutionell verwobenen
und abgesicherten Marktes. Wer sich hier auskennt, weiss von den synergetischen
Effekten die sich Institution und Privatwirtschaft von der gegenseitigen Befruchtung
versprechen.
Institution will hier demnach auch im weitesten Sinne verstanden werden: Das meint
Ausstellungsorte, das meint die mediale Kunstkritik, den Markt mit seinen Katalysatoren
Galerie, Messe und Auktion sowie nicht zuletzt das Künstleratelier mit seiner spezifischen
-angepassten oder widerständigen- Produktionsethik. Genauer gesagt, handelt es sich
beim Begriff Institution im folgenden um den gesamten kulturökonomischen Komplex mit
seiner dominanten, allumspannenden Logik. Meine Existenzanalyse sieht also die
Produktion im Schatten ihrer Produktionsbedingungen .
Zweitens soll meine Existenzanalyse vor dem Hintergund stehen, welche Funktion dem
Künstler heute gesellschaftlich beikommt. Der Künstler steht heute in einem kulturellen
Kontext, der ihm wenig Spielraum für eine Rolle als öffentlicher Intellektueller lässt. Es
handelt sich um einen Kontext, in dem die Kritik durch ihre institutionelle Endogenisierung
zum integralen Bestandteil hegemonialer Dominanz geworden ist und in dem sich
angesichts von Massenbohèmisierung und Individualismus, welche Symptome eines alles
durchdringenden neuen Geistes des Kapitalismus sind, die soziale Funktion des Künstlers
oder künstlerischer Handlungen auflöst -im Sinne des aufklärerischen Geistes.
Längst ist die Magie künstlerischer Handlungen auf Ersatzhandlungen des
Konsumkapitalismus verschoben und die Aura des Kunstwerks selbst institutionalisiert:
Sie wird bis auf weiteres verpachtet an die Institutionen, die es ihrerseits schaffen, das
Auratische, das Magische getrennt von der Kunst, durch ihre blosse Existenz
hervorzubringen. Die von hier ausgehende Kühnheit, so magische Handlungen an die
Massen administrieren zu wollen und die Institutionen, oder noch schlimmer, die hinter
ihnen stehenden Sponsoren zu den neuen Magiern unserer Zeit erheben wollen, müssten
bei den Künstlern eigentlich Brechreiz verursachen. Hier ist die Künstlerin oder der
Künstler meiner Meinung nach dazu aufgefordert, sich gesellschaftlich neu zu verorten,
alte Forderungen neu zu stellen und neue Strategien zu finden, die nichts mit der
Neuerung, bzw. der Emanzipation der ästhetischen Erscheinungsformen zu tun haben,
sondern eher auf die institutionellen und juristischen Rahmenbedingungen für
Kunstproduktion und ihre Distributionsformen strategisch reagieren sollten.
Ich möchte zunächst auf die gesellschaftlichen Umstände verweisen, welche die eben
angesprochenen Punkte hervorzubringen vermögen:
Europa und die westliche Welt sind ja erst Dank der Verlegung der fordistisch
organisierten Produktionsarbeit in Schwellenländer dazu fähig, die Rolle der Arbeit neu zu
reflektieren. Die Diskussionen um immaterielle Arbeit, Flexibilisierung der
Arbeitsstrukturen, Wissensgesellschaften, intellektuellem Kapital und auch die Diskussion
über ein bedingungsloses Grundeinkommen finden nämlich im white-collar Bereich,
überspitzt ausgedrückt, in der Chefetage der Welt statt -nämlich bei uns und nicht auf den
Phillippinen- wo als Sklaven gehaltene minderjährige Näherinnen uns diese
Luxusprobleme erst ermöglichen. Während wir in langen Museumsnächten uns darüber
freuen, dass die grossen Kunstinstitutionen sich angeblich dem breiten Publikum öfnnen,
vergessen wir nur allzu schnell, wem dieser Kunstgenuss nicht zuteil wird, aufgrund von
etwaiger, mileuspezifischer Kulturfremdheit (ich gebrauche diesen Begriff nur ironisch)
oder anderer Effekte ausbeutender oder entfremdender Arbeitspraxis oder
Arbeitslosigkeitspraxis.Das hauptsächliche Problem hierbei ist die überaus freche
Behauptung der Demokratisierung des Kunstgenusses, die sich mir nichts Dir nichts über
die stratifikatorischen Grenzen der Kulturrezeption einfach hinwegsetzt. Von den
qualitativen Veränderungen innerhalb von Massenwirsamen Produktionen mal ganz
abgesehen.
Beflügelt von einer solchen, gehörigen Portion an Selbstbetrug und dem sich daraus
ergebenden ungeheuren Glück, für sich entfremdetes Arbeiten und Klassenschranken
innerhalb einer sozial mobilen Intelligenz scheinbar überwunden zu haben, machen sich
entsprechende Mythen der Selbstbestimmung breit. Für den Künstlerstand waren die
Probleme entfremdeten Arbeitens lange Zeit nicht relevant, schien es doch der einzige
Berufszweig zu sein, der von der Arbeitsteilung und den damit verbundenen Effekten,
nicht betroffen war. Die Trennung des Produzenten von seinen Produktionsmitteln wurde
in der Kunst ja lange mit einer intellektuell aufgeladenen handwerklichen Praxis
beantwortet, die ein grosses Mass an Autonomie gewährte. Der Künstler vermochte sich
durch diese Strategie über das Ständische und über gesellschaftliche Inpermeabilität
hinwegzusetzen. Vielleicht hat der Verlust von Diskurshoheit auch etwas mit dem
Verschwinden autonomer Arbeitsprozesse in der Kunst zu tun:
Die Trennung von Produzent und Produktionsmitteln und die Arbeitsteilung sind heute
Realitäten, die wieder verstärkt auftreten. Ein Beispiel wären Tobias Rehbergers in
Thailand gefertigte Skulpturen. Ein anderes, interessanteres, die Kunst eines Tino Seghal,
die der Arbeitsteilung einen merkwürdigen, geradezu kuriosen Aspekt verleihen oder
-etwas ärgerlicher- die Kunst eines Rirkrit Tiravanija, die ohne die Mitarbeit des
Zuschauers gar nicht erst zustande kommen kann und eine Arbeitsteilung hervorbringt, die
eher an den kollektiven Zusammenbau eines IKEA-Regals erinnert und auch eine ebenso
uninteressante Erfahrung darstellt. Oder nehmen wir Christine Hill's Volksboutique, wo der
Betrachter durch normatives Konsumentenverhalten angeblich Teil an einem
künstlerischem Prozess hat und gleichzeitig einer aus Prekarität geborene
Verzweiflungstat zu kulturalisieren hilft. Die partitipative Kunst der relationellen Ästhetik hat
Blüten getrieben, über die an anderer Stelle noch zu diskutieren sein wird. Inwiefern die
hier zu beobachtende Entfremdung der Arbeit symptomatisch oder ursächlich für den
Verlust der Diskurshoheit ist, sei jetzt mal dahingestellt. Für mich waren diese Erfahrungen
auf jeden Fall erstmal Grund, "nachzudenken, ob es so weiter gehen kann."
Während Kippenbergers gleich lautende Frage aus dem Lager der Malerei endgültig mit
der Transformation des Absatzmarktes für Flachware in einen Wirtschaftsektor, der dem
Immobilien-Markt sehr ähnelt beantwortet wurde, geriet die Malerei (mit der ich selbst
meine Laufbahn begann) für mich in ein Abseits, in welchem dem Medium keine
diskursive Kraft mehr innewohnte. Institutionskritische Malerpositionen etwa eines René
Daniels oder eines Daniel Buren verloren ihre diskursive Kraft. Zu spät geboren für die
zweite Welle der konzeptuellen Institutionskritik blieben die performativen Formen, die sich
ihrerseits ab den 1990er Jahren aber zunehmend in Formen wie der ésthetique
rélationelle präsentierten, die Dinge versprachen, von denen ich ahnte, dass sie nicht
eingelöst werden könnten. Einerseits weil sie keinen gesamtgesellschaftlichen Anspruch
erhoben, aus der sich ihre Praxis ableiten liesse. Andererseits weil sie mit einer Pose
daherkamen, welche Distanz ausschloss: Sie erlaubte nur die Affirmation und war
gegenüber ihren Rahmenbedingungen vierlerorts ebenso unkritisch.
Meine Zweifel beziehen sich hier auf einen hohlen, sinnentleerten und rekuperativen
Emanzipationsgestus, der versprach, Entfremdung, Ausgrenzung und Singularisation zu
überwinden, aber letzten Endes nur dabei half, die Institutionen als gesellschaftlichen Ort
neu zu generieren und so dem Schrei nach höheren Besucherzahlen und dem
Selbstdarstellungsdrang von Sponsoren zu entsprechen.
Darüberhinaus repräsentierte die relationelle Kunst oftmals eine Philosophie, die allzusehr
den Firmenphilosophien moderner Dienstleistungsunternehmen entsprach.
In Ignoranz der Tatsache, dass im Post-Fordismus, zwei Arten von Emanzipation -die
soziale und die generische- in eine Waage geworfen werden, deren Balance die Macht
des Kapitals garantiert, übersieht der hier relative Freiheiten geniessende Mensch gerne,
die strukturelle Entfremdung, der er ausgesetzt ist. Um diese zu erkennen, bedürfte es
aber einer gewissen Distanz, wenn nicht gar des Aussteigertums. Und die ist hier oft nicht
möglich. Ich sage das auch im Hinblick auf die Über-Gesellschaftlichkeit oder auch Nicht-
Gesellschaftlichkeit der verschwundenen künstlerischen Avantgarden.
Für den Künstler -wie für den Arbeitnehmer- gilt im gleichen Masse: Um einen Blick auf
dieses System, dass auf der einen Seite klassische Emanzipationsforderungen der
Arbeiterbewegung ein Stück weit einlöst, also angepassten Lohn, Möglichkeit zur
Sesshaftigkeit und Familienplanung, gesellschaftliche Stabilität und Sicherung des
Arbeitsplatzes usw. und auf der anderen Seite generische Emanzipation ermöglicht, also
Individualismus, Überwindung rigider Klassengrenzen, Selbstbestimmung, Flexibilität und
verflachte Hierarchie, um dieses System also, dass die beiden genannten Formen von
Emanzipation, nur in Wechselwirkung zu einander existieren lässt, sprich: mehr
Individualismus - dafür weniger Sicherheit, um dieses System verstehen, oder überhaupt
erkennen zu können, muss man sich ausserhalb der Reichweite seiner Logik aufhalten.
Das bedeutet sich ausserhalb der ursprünglich von Bismarck zur Abwendung von
Revolutionen auf die Zivilgesellschaft übertragene preussisch-militärischen Meritokratie
aufzuhalten, einerseits, und andererseits ausserhalb des konformistischen Individualismus
zu stellen, also einem Individualismus, der nur in einem gewissen Spielrahmen gewährt
wird und gedeihen kann, faktuell aber nicht wirklich vorliegt, da die Grenzen für ihn
vorbestimmt sind, wie zum Beispiel in der interaktiven Kunst. Diese Form von eingelöster
Emanzipation beschreibt einen Zustand, der niemals ohne Preis ist: Der Preis heisst hier:
Relative Autonomie als Preis für die Abgabe der Diskurshoheit, relative Selbstbestimmung
als Preis für Einbussen im Lohnanspruch oder Flexibilität als Preis für Instabilität usw.
Der Künstlerberuf ist gewissermassen die Verkörperung des bürgerlich-generischen
Emanzipationstypus per se:
Das Anliegen bürgerlicher Kunst ist demnach selbstverständlich auch nicht die Befreiung
der Arbeiterklasse oder die Beseitigung krasser Ungleichheiten, bzw. die Verteidigung
kollektiver Formen von gesellschaftlicher Devianz. Im Gegenteil ist die einem radikalen
Individualismus verschriebene Ungleichheit ihre Essenz: Nach der Verabschiedung einer
überwiegend revolutionär ausgerichteten Avantgarde erfährt diese Differenz allerdings
eine neue Akzentuierung. So wird bestenfalls die individuelle Differenz als Künstler- und
Bürgerrecht verteidigt. Der so entstehende differenzkapitalistische Diskurs, findet seinen
Platz, wo -gleich unter gleich- die Distinktion zum ökonomischen Zwang wird. Hier, wo die
Ästhetik hervortritt und die Politik verschwindet, findet die Kunst des Spätkapialismus ihren
Ort. Das Gewicht verlagert sich auf Formen der Selbsterfindung, die in popkulturellen
Images kulminieren oder wo die Begegnung selbst zum Pop wird, also die Begegnung
nicht inhaltlich aufgeladen ist, sondern von rein ökonomischem Wert ist. Die Begegnung
selbst ist der Wert, der durch Differenzierungs- und Distinktionspotenzial an sozialem
Kapital gewinnt. Auf ähnliche Weise denken sich auch einflussreiche Schwachköpfe wie
Richard Florida, die Generierung kreativen Potenzials, ja gar einer kreativen Klasse. Ich
zitiere Uwe Schütte über Benjamin von Stuckrad-Barre's Roman "Soloalbum": "Das
System des Differenzkapitalismus hat nicht nur die popkulturell basierten
Abgrenzungskonzepte assimiliert, sondern verdrängt und kolonisiert die Sphäre
intellektueller Kritik, indem es eine systemimmanente, gleichsam tautologisch verpuffende
Form der Dissidenz erzeugt."
Mit anderen Worten liegt hier eine Ökonomisierung der Differenz und der Kritik vor, die es
dem Kapitalismus erlaubt, diese zu integrieren und letztlich gestärkt aus diesem Prozess
hervor zu gehen. Herbert Marcuse hätte auch das wohl als repressive Toleranz
bezeichnet. So finden wir heute in der marktmässig verankerten und institutionell
abgesicherten Kunst Positionen vor, die mit einer Kritik aufwarten, die leider an ihren
eigenen Distributionsformen krankt.
Die Tatsache, dass diese kritischen Positionen existieren und dass sie rezipiert werden,
dass diese überhaupt Gegenstand aktueller künstlerischer oder kultureller Analysen
werden können, verdanken sie dem Umstand, dass sie sich der gegenwärtigen
kulturökonomischen Logik unterwerfen oder aber diskursmässig in diese integrierbar sind.
Der Voluntarismus, den man hier walten lässt, ist natürlich graduell unterschiedlich und
wird durch den wirtschaftlichen Druck, unter dem er entsteht, aufgewogen.
Dass derartige Zugeständnisse auf jeden Fall konditionierend wirken, brauche ich wohl
kaum weiter zu erläutern. Nur so viel sei dazu gesagt, nämlich dass ich diese Anklage
nicht auf die sich redlich bemühenden Künstler beziehe. Ich weiss aus eigener Erfahrung,
wie unheimlich schwer es ist, in dem Gleichgewicht von relativer Autonomie und prekärem
Lebensumstand, zu existieren. Meine Kritik ist Selbstkritik und gleichzeitig Systemkritik
und meine Existenzanalyse versteht sich als Anregung dafür, gegen die Totalität des
spätkapitalistischen Geistes anzugehen, der sich -wie schon Marx ahnte- in alle
Gesellschaftsbereiche und somit natürlich auch in die Kunst zieht. Wir befinden uns in
einem Kunstsystem, das genährt wird von den Existenznöten der meisten von uns
Künstlern und belohnt wird mit der -oft vorübergehenden- Illusion, im Kunstsystem seinen
Ort gefunden zu haben. Ich bin für meinen Teil aber nicht mehr bereit, auf die Einlösung
dieses Versprechens zu warten. Dazu aber später mehr.
Es sind freilich aber nicht nur die existentiellen Gefahren und Prekaritäten, welche
bewirken, dass die Kunst immer wieder das Potenzials ihrer eigenen Widerständigkeit
beschneidet und sich gewissen Normen unterwirft, die die Sichtbarkeit der eigenen Kunst
im Meer der künstlerischen Positionen ermöglichen sollen. Der Wille sich den normativen
Kräften des Kunstmarktes und diskursmässigen Standards zu unterwerfen, resultiert auch
aus dem "Versprechen" des Kapitalismus. Er verspricht in seiner aktuellen Ausformung,
dem Neoliberalismus, Chancengleichheit, Partizipation und Demokratisierung, verkauft mit
der Sprache des Sozialisten, des Individualisten, des Utopisten oder des Anarchisten, ein
fragwürdiges System individueller Freiheiten und sozialer Utopien.
Dafür werden strukturelle Ungleichheiten in Kauf genommen. Nur mal als Beispiel: Sie
werden tausende künstlerische Positionen finden, die entweder Ungleichheiten auf den
grossen Anderen verschieben, also die Kritik an Ungleichheit in die dritte Welt outsourcen
oder aber im Bereich der political correctness und der Genderfrage ansiedeln. Ich will
diese Standpunkte nicht kritisieren, denn sie behandeln sehr wichtige Themenbereiche.
Ich benutze sie lediglich, um auf den Missstand hinzuweisen, dass Sie vergleichweise
wenige Künstler finden werden, die z.B. die Klassenfrage stellen. Auch in dieser Runde
würde sich wahrscheinlich im Bezug auf die Klassen eine Dominanz zugunsten eines
sozial mobilen Mittelstandes mit Sicherheit feststellen lassen.
Selbst wenn in jüngerer Zeit des Thema Prekariat bei einigen prekär lebenden Künstlern
an Konjunktur gewonnen hat und diese in kleinen Zirkeln auch einem ähnlich lebenden
oder akademischen Publikum präsentiert werden, so kann ich mich nicht entsinnen, in
letzter Zeit eine institutionelle Ausstellung zum Thema gesehen zu haben. Ich kann mir
ehrlich gesagt auch nicht vorstellen, dass Sponsoren, Ministerien und Vorstände daran ein
reges Interesse hätten, ausser vielleicht es käme etwas dabei heraus, à la Holm Friebe &
Sascha Lobo mit ihrer Theorie der digitalen Bohème, wo Prekariat zur Selbstbestimmung
umgedeutet wird.
Auf den zweiten Blick m,acht der Widerspruch, der sich aus dem Verhältnis von Zwang
und Versprechen ergibt, also durchaus Sinn:
Zunächst erscheint der Mythos einer enthierarchisierten und demokratisierten Kultur,
welche sich angeblich durch Zugänglichkeit und Partizipativität auszeichnet, der Existenz
realer struktureller Ungleichheiten zu widersprechen. Als Beispiel sei hier nur das
Bildungsniveau als Indikator stratifikatorischer Rigidität genannt, die Adorno’s und
Horkheimer’s These, dass die Kulturindustrie ihre Konsumenten immerwährend um das
betrüge, was sie immerwährend verspreche, zu bestätigen scheint. Ebenso verhält es sich
in diesem Zusammenhang mit der Gewährung relativer Freiheiten. Die Auflösung rigidkonservativer
Formstrenge beinhaltet ja nicht zwingend die Aufhebung konservativer
Inhalte oder gar die Auflösung der institutionellen Repression. Die hier stattfindende
repressive Entsublimisierung dient mehr denn je dem Projekt ökonomischer und
institutioneller Steuerung und Kontrolle.
Das immer wiederholte und immer wieder gebrochene Versprechen der neoliberalen
«Kulturrevolution» wirkt natürlich systembestärkend: Die Ungleichheit wird scheinbar
bekämpft, Entfaltungsmöglichkeiten angeblich aber glaubwürdig simuliert. So wird die
individualistische Performanz und somit die gefühlte Freiheit, immer wieder als
emanzipatorisch aufgewogen, obwohl zwischen beiden nicht zwingend ein
Zusammenhang besteht. Es kann hier ganz im Gegenteil zu einer Unwucht kommen,
welche nur durch diesen rhetorischen Trick der Verwechslung von Selbstverwirklichung
und Freiheit das kulturökonomische Rad zum Rollen bringt. Das System kann also nicht
mehr der Ungerechtigkeit bezichtigt werden, es wird unangreifbar. Der ungleich
Behandelte ist somit der sozial-darwinistischen Selektion ausgeliefert, einer Maschinerie,
die den Erfolg sichtbar zu machen und das Scheitern auszulöschen vermag. Angeblich.
Die aus dem inneren Kreis der Frankfurter Schule stammende Analyse der Kulturindustrie
als Formation eines dem Fordismus in seiner Entwicklung hinterherhinkenden
Produktionsbereichs, der lediglich danach trachten würde, die angeblich fortgeschrittenen
Produktionsweisen Taylors und Fords zu reproduzieren, dieser Analyse entgegnet eine
andere Sichtweise (die post-operaistische Sichtweise), dass die Kulturindustrie im
Gegenteil die neuere, post-fordistische Produktionsweise ideell, strukturell und praktisch
antizipiert. Zentral für diese mittlerweile weit verbreitete Produktionsweise seien informelle
Strukturen in zeitlichen, räumlichen und hierarchischen Abgrenzungen, die wir vorhin als
„relative Freiheiten“ angesprochen haben. Diese setzen sich zusammen aus einer
Offenheit für Improvisationen bzw. unvorhergesehene Effekte, sowie der Flexibilisierung
traditioneller Arbeitsteilung. Beispiel: verflachte Hierarchien als strukturelle Massnahme
vorgeblicher Selbstbestimmung. Kritik innerhalb dieser Strukturen wird keinesfalls mit
Repressalien geahndet, sondern ist konsekutiv ein konstruktiver Bestandteil eines auf
ständige Erneuerung zielenden, zukunftsorientierten Produktionsapparats. Hieraus ergibt
sich auch die Attraktivität des Künslerberufs und seiner individualistisch-chaotischen
Produktionsweisen für die Vertreter der Wirtschaft. Ich verweise nur mal auf das art,
science & business-Stipendium im Stuttgarter Schloss Solitude.
Die Rolle der kritischen Kunst ist in dieser Relation indes zwiespältig. Wird sie toleriert, so
könnte man mit Adorno und Horkheimer vermuten: „Was widersteht, darf überleben nur,
indem es sich eingliedert. Einmal in seiner Differenz von der Kulturindustrie registriert,
gehört es schon dazu wie Bodenreformer zum Kapitalismus.“ Diesem Dilemma ist die
kritische Kunst ja, solange sie sich im institutionellen Rahmen bewegt, sowieso immer
ausgesetzt.
Das Resultat ist, wie vorhin schon angesprochen, eine Kunst, die aufgrund ihrer
Konzessionen gar keine andere Wahl hat, als sich einem schwachen, aus der Pragmatik
und nicht aus der Ideologie abgeleiteten Kunstbegriff (siehe Diederich Diederichsen: Kunst
und Nichtkunst, Eigenblutdoping, 2008) zu verschreiben, was auch der Erwartungshaltung
des spezifischen Publikums entgegen zu kommen scheint: Wo früher dem reaktionären
bürgerlichem Kunstdiskurs die Option blieb, sich vom Totalitätsanspruch anti-bourgeoiser
Avantgarde-Kunst durch Denunziation der selben als Nicht-Kunst von den immanenten
Forderungen nach Veränderung der Gesellschaft oder des Lebens zu distanzieren, so
bleibt heute der selben reaktionären Kunstkritik die Option, sich gegenüber solchen
Forderungen, dergestalt zu distanzieren, dass sie diese als "nicht mehr zeitgemäss"
denunziert und den eigenen reaktionären Diskurs als fortschrittlich beschreibt..
Basierend auf einer technokratischen Gesellschaftskonzeption, die technischen Fortschritt
bejaht, jedoch sozial stagniert, gelingt es durch die besagte Argumentationstechnik, den
modernen Antagonismus von Progression und Reaktion umzustülpen. Es geht dabei also
um die Positionierung dessen, was fortschrittlich ist und was nicht. Die gesamte
Konzeption der post-avantgarde Kunst (meint eine Kunst, die den Avantgardegedanken
kategorisch ablehnt) basiert auf dieser Inversion. Das Aufgeben eines starken
Kunstbegriffs, zugunsten einer pragmatisch orientierten, nicht-avantgardistischen und
inklusionistischen Kunstpraxis, welche die spätkapitalistischen Momente von
gesellschaftlicher Entspannung und technologischer Erneuerung affirmiert, steht im
Schatten dieses Paradigmenwechsels. Hier entstehen, auch durch mangelndes
Bewusstsein, Kunstdiskurse, die davon ausgehen, ein hohes Mass an Emanzipation sei
bereits erreicht und innerhalb solcher gesellschaftlicher Sublimation gelte es nur noch,
diese zu vernetzen. Die Utopie sei durch die Vernetzung schlechthin verkörpert. Ganz
konkret beziehe ich das -schon wieder!- auf die intra-institutionelle partizipative Kunst der
letzten 15 Jahre.
Ich stehe vor Ihnen als jemand, der zusammen mit einigen Kollegen auf die hier relativ
ausführlich beschriebenen Zustände mit einer extrem simplen Strategie reagiert:
1. Dem Ausstieg aus jeglichen Zusammenhängen mit der Privatwirtschaft.
2. Der analogen Umsetzung offener digitaler Copyrights und Distributionsstrategien wie
dem creative commons und somit die Subversion marktmässiger Interessen und
Einschreibungen. Ich lese nun zum Abschluss einen Auszug aus einem Manifest der
Immaterialistischen Internationale vor:
Der Immaterialismus wurde 2007 ins Leben gerufen. Angesichts der zunehmenden
Prekarisierung der künstlerischen Produktion und des zunehmenden Verlustes an
Diskurshoheit seitens der Künstler, in einer Realität der Produktion, die geprägt ist von
Singularisation, Destabilisation, finanziellem Druck und einer allgemeinen Ökonomisierung
des Kunstdiskurses an sich, angesichts eines hieraus resultierenden Volontarismus
seitens der Künstler, die sich in Ihrer Rolle als Handlanger internationaler Geldwäscher,
Fiskalverbrecher und Arschlöcher vom Dienst gefallen, Kunst aus den falschen Gründen,
mit den falschen Mitteln an den falschen Orten betreiben, die künstlerische Kritik an
Kuratoren und trendbewusste Schmierfinken monopolistischer und unerträglicher Kunst-
Lifestyle-Blätter abgeben, sich in die Rolle als Illustratoren eines grössenwahnsinnigen
und hochtrabenden Curator's Digest und allgemeinen Blendertums bestens einleben und
die durch das Weiterdelegieren der eigenen Produktion, einem ausgewähltem Publikum
zur Zelebrierung prekärer Arbeitsverhältnisse in Form des Spiels verhelfen, ANGESICHTS
ALL DESSEN knallt die Faust der Immaterialisten auf den Tisch. Sie hat keine Blumen
mitgebracht, denn für die Bösen, da gibt es kein Blumen. Da kommt die blanke Faust.
Die Immaterialistische Internationale sagt: Hört auf zu malen (und tut es auch wirklich)!
Vergesst Eure Copyrights und tretet Eure Karrieren in die Tonne!
Stellt keine Originale aus und gebt jedem, der will, die Gelegenheit eine Kopie zu besitzen,
ohne dafür zu bezahlen.
Jeder kann eine immaterialistische Kunstsammlung haben. Alle Bilder sind frei!
Wie Kirche und Staat soll Kunst und Geld getrennt werden. Wenn das bedeutet, sich seine
10 x 10m grossen Leinwandbeklecksungen oder überkandidelten
Überwältigungsinstallationen nicht mehr leisten zu können, dann sagt die
Immaterialistische Internationale dazu: Drauf geschissen!
Die Welt sieht ohne Euren hässlichen und belanglosen, aus purer Raffgier künstlich
aufgeblähten Schrott auch nicht schlechter aus!
Wenn Du als Künstler was zu sagen hast, dann sag es. Wenn Du danach trachtest, es nur
in den schicksten White Cubes in intimidierender Grösse zu sagen, dann ist das, was Du
in Hochglanz mitteilst, wahrscheinlich selbstverliebter und heuchlerischer Müll. Vielleicht
hast Du Deinen Weg verloren. Schlimm genug. Vielleicht bist Du aber genau auf dem
richtigen Weg, für den Anspruch den Du an das Künstlerdasein hast. Noch schlimmer!
Das einzig ehrliche was Du dadurch ausdrückst, ist das Du eine Produktionslogik und ein
ökonomisches System vertrittst und verherrlichst, das wir Immaterialisten als Schweine-
Kunstsystem bezeichnen und Du bist deshalb entweder Unbewusst, Ignorant oder ECHT
ARM DRAN! Vielleicht bist Du aber auch nur eine echt miese Type, die freiwillig bei
diesem Scheissspiel mitmacht...
Verabschiede Dich also von Deinem Selbstverwirklichertum und verwirkliche die Kunst!

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